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Titel
Diktatoren im Kino. Lenin – Mussolini – Hitler – Goebbels – Stalin


Autor(en)
Demetz, Peter
Erschienen
Anzahl Seiten
255 S.
Preis
€ 24,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Günter Agde, Berlin

Ein beinahe neunzigjähriger Germanist, von lebenslanger tschechisch-deutscher Prägung und seit langem in Yale lebend und lehrend, legt eine Art Alterswerk vor, das sich dem Kino widmet. Ihm war er von frühester Jugend an innig verbunden. Er nennt zwei Koryphäen als Anreger für seinen Exkurs: Zum einen Robert Sklar, der zu den Mitbegründern der frühen amerikanischen Filmsoziologie gerechnet wird, aber hierzulande wenig bekannt ist und kaum rezipiert wurde. Seine Kulturgeschichte des amerikanischen Films „Movie-Made America“ (1975) ist bis heute nicht ins Deutsche übersetzt worden. Zum anderen Ilse Aichingers zahlreiche Film-Feuilletons, zusammengefasst in „Film und Verhängnis. Blitzlichter auf ein Leben“ (2001). Aichinger verknüpft – auf hohem sprachlichem Niveau, das stets die außergewöhnliche Lyrikerin verrät – subjektive Kinoeindrücke mit biografischen Erlebnissen. Beide individuelle Bezüge bleiben ohne erkennbare Folgen für Demetz‘ Text. Siegfried Kracauer, Béla Balázs oder Rudolf Arnheim, die zu den wirklichen Anregern und Denkern einer modernen, soziologisch untermauerten Filmwissenschaft zählen, kommen ihm nicht in den Sinn.

Demetz will das Verhältnis europäischer Diktatoren zum Kino beschreiben. Er fokussiert auf Hitler, Mussolini, Lenin und Stalin und bezieht Goebbels mit ein. Diese Auswahl macht kenntlich, dass der Ansatz filmhistorisch mindestens brüchig ist, denn Goebbels war ja – der Sache nach – kein Diktator, sondern willfähriger, intelligenter und einfallsreicher Helfer des Diktators Hitler. Demetz trägt viel angelesenes Material zusammen, das bereits lange anderswo publiziert ist, oft auch an entlegenen Orten. Er beschreibt, wie die Diktatoren das Kino als Instrument ihrer Propaganda genutzt haben, welche Mittel sie im Einzelnen dafür eingesetzt haben und welche Wirkungen sie damit erzielen konnten. Er liefert nichts Unbekanntes oder gar selbst Erforschtes, keine neue Erkenntnis. Über Goebbels‘ Verhältnis zum Kino etwa, das dem Autor immerhin knapp 50 Seiten wert ist, hat der Münchner Filmhistoriker Felix Moeller die bislang profundeste, mit Dokumenten gründlich unterfütterte Analyse vorgelegt.1

Demetz hingegen schwelgt in filmhistorischen Kuriosa, die eher in populären Journalen zu erzählen wären. Etwa, dass Stalins Tochter Swetlana eine Romanze mit dem Moskauer Spielfilmregisseur Alexander Kappler hatte, die diesen für Jahre in den Gulag brachte; oder Goebbels‘ ernsthafte Affäre mit der deutsch-tschechoslowakischen Schauspielerin Lida Baarova; ferner Mussolinis persönliches Eintreten für den Bau der voluminösen italienischen Filmstadt Cinecittà (auch Goebbels plante ein Neu-Babelsberg). Bei seinem Exkurs über Lenin mokiert er sich: Lenin habe sich nur für Filme interessiert, die den Torfabbau propagierten. Er ignoriert, dass Lenins Interesse anders gespeist war: In einem weithin analphabetischen Land wie der frühen Sowjetunion war der Film ein nahezu ideales Mittel, neue Methoden der Torfgewinnung massenhaft zu popularisieren. Daraus Grundsätzliches über Lenins Kinoverständnis abzuleiten, ist schlicht abwegig.

Zu Demetz‘ Oberflächlichkeit gehört, dass er wichtige Seiten im Kinoverhältnis der Diktatoren auslässt, ohne dass die Gründe dafür erkennbar werden. Das betrifft etwa Stalins und Goebbels‘ Umgang mit Wochenschauen und Dokumentarfilmen. Zwar bezieht Demetz sich auf die Goebbels-Tagebücher, erwähnt jedoch nicht die dort gut dokumentierte intensive Wochenschau-Arbeit des Propagandaministers. Stalins Aufmerksamkeit für Dokumentarfilme reduziert er auf jene Streifen, die noch vor Ende des Krieges den Sieg über die deutsche Wehrmacht patriotisch deklarierten. Boris Schumjazkij, langjähriger Leiter der sowjetischen Filmindustrie, richtete die vielen nächtlichen Filmvorführungen für Stalin und seine Entourage aus und protokollierte aufmerksam die Bemerkungen der Politiker, auch Stalins.2 Das ist eine einzigartige Quelle, denn Schumjazki war nicht nur der orthodoxe Politnik, wie ihn der Autor sehen will, sondern ein ausgefuchster Pragmatiker, der die sowjetische Filmkunst voranbringen wollte – auch oder trotz Stalins Orthodoxie. Seine Abneigung gegenüber allen Formen avantgardistischer Kunst (Eisenstein) war sein Tribut an die Normen des Stalin'schen sozialistischen Realismus und zugleich Ausdruck seines Willens, eine Filmkunst zu befördern, die wirklich die Massen erreichen sollte. Hätte Demetz die Schumjazki-Papiere aufmerksam gelesen, hätte ihm das kaum entgehen können.

Demetz zieht zahlreiche Filme heran, um sein Flanieren durch die Filmgeschichte durch die Optik von Diktatoren zu illustrieren. Freilich kann man schnell sehen, dass er viele Filme nicht aufmerksam genug angesehen hat. Er beschränkt sich auf Inhaltsstichworte der lexikalischen Art, ohne Filmspezifika zu berücksichtigen. Kameraarbeit, Filmarchitektur oder Musiken, die ja erheblich zum Kunstwerk Film beitragen, ignoriert er. Dazu gehören auch stilistisch-spekulative Ungenauigkeiten ohne empirische Evidenz, etwa wenn er schreibt: „ […] zum Glück war sich Wassiljew seiner Grenzen bewußt und drängte sich nicht vor [Eisenstein, G.A.].“ (S. 212)

Insgesamt handelt es sich um eine Art Filmgeschichte im Weichzeichner, zudem sehr, sehr subjektiv erzählt. Ich konzediere dem alten Herrn – bei allem Respekt – eine Art Altersweisheit, genauer: Altersweichheit, denn anders kann ich sein verworrenes Mäandern durch die Filmgeschichte nicht erklären – und auch die Nachsicht des Verlags nicht verstehen.

Anmerkungen:
1 Felix Moeller, Der Filmminister. Goebbels und der Film im Dritten Reich, Berlin 1998.
2 Siehe: „В зрительном зале Сталин, или «Записки Шумяцкого»“ (dt. „Im Zuschauerraum Stalin. Notizen Schumjazkis“), Dossier aus dem Stalin-Sekretariat, veröffentlicht vom Jakowlew-Fonds, in: Internet Archive: https://web.archive.org/web/20080208150252/http://www.idf.ru/15/doc.shtml (01.09.2019); Demetz bezieht sich auf einen stark gekürzten Auszug in: K.M. Anderson / L.W. Kaksimenkow / L.P. Koschelew / L.A. Rogowaja (Hrsg.), Kultura i wlast, Kremlevski kinoteatr 1928–1953, Moskau 2005, S. 919ff.

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